Besuch bei den Geschwistern in Nowo

Gastfreundschaft

SamovarWer Gastfreundschaft erleben will, der muss nach Russland reisen! Das kann ich wieder uneingeschränkt bestätigen, seit ich als Vorsitzende des Hilfswerks zum 12. Mal unsere südrussische Partnerstadt besucht habe.  Bei schönstem Frühlingswetter Ende April ist alles sehr gut verlaufen: vom Flug über den Geldtransfer und die offiziellen Termine bis zu den vielen Besuchen bei alten und neuen Freunden. Es ist für mich ein sehr großes Geschenk und Privileg, die Geschwister in Nowo, Taganrog und Schachty über mittlerweile 27 Jahre begleiten zu dürfen, seit Iserlohn mit seiner russischen Partnerstadt Nowotscherkassk verbunden ist. Vier Jahre nach dem letzten Besuch wurde es nun Zeit, wieder mal vorbei zu schauen.

Gewohnt habe ich wie früher im Mädchenheim der Baptistengemeinde, wo eine angenehme Atmosphäre herrscht. Das Haus ist in gutem Zustand, 6 Mädchen leben dort mit den Hauseltern Vera und Sascha und ihren 4 Kindern. Vera berichtet nicht ohne Stolz, dass fast alle Mädchen, die nach ihrer Zeit im Waisenhaus in diesem Haus aufgenommen wurden, eine höhere Schulbildung und gute Berufsausbildung bekommen haben, teilweise als Ingenieurinnen. Seit 18 Jahren gibt es das Mädchenheim, 15 Jahre sind Vera und Sascha dort in Verantwortung.

Zweck der Reise

Neben dem Geldtransfer sind der Einblick in unsere Projekte, der Besuch bei Babuschkas und Familien, sowie der Eindruck von den Lebensverhältnissen und Sorgen der Menschen ein wichtiges Ziel dieser Reisen. Dazu gehört dann auch, möglichst viele Fotos für unsere Spender zu machen. Sie zu verschicken war eine meiner ersten Handlungen, als ich wieder in Iserlohn war. Wie immer waren die Besuche bei den Omas zuhause sehr bewegend. Wenn ich darüber im Einzelnen berichten wollte, hätte ich lange zu erzählen, nicht nur weil wir ca. 160 Patenschaften unterhalten.

Aber eine Begegnung möchte ich doch schildern, den Besuch bei Babuschka Elisaveta. Sie hat sich so gefreut über unser Treffen und die Möglichkeit, einmal persönlich Danke sagen und erzählen zu können. Elisaveta bewahrt alle Briefe und Fotos ihrer deutschen Patin in einem Album auf, das sie mir voller Freude zeigte. Hier sind also wirklich zwei Menschen herzlich miteinander verbunden. Das zu sehen war für mich eine große Freude. Und eine persönliche Beziehung ist ja auch Intention der Aktion Babuschka, die eben nicht anonyme Hilfe sein soll.

ElisavetaJust einen Tag zuvor feierte Elisaveta ihren 90. Geburtstag, und das erstaunlicherweise zum 2. Mal. Sie hat mir das so erklärt: als die deutsche Okkupation in Russland begann, hat ihre Mutter sie für ein Jahr jünger erklären lassen, damit sie nicht mit den älteren Mädchen verschleppt würde. Dieser Plan ist aufgegangen und so ist sie nun eigentlich schon 91, offiziell aber erst 90, laut ihrem Pass. Und das zwar mit sichtbarer körperlicher Schwäche, geistig aber wach und getröstet. Und umsorgt von ihrer Tochter.

Wo das Geld bleibt, das wir im Laufe des Jahres nach Russland schicken, ist schließlich auch wichtig zu begutachten. Fazit: Die Projekte werden sehr gut verwaltet, die Abrechnungen sind sehr genau, Valja Romanenko ist absolut zuverlässig. Und was die freien Spenden betrifft, da kann man ihre Spuren sehen bzw. anfassen: Renovierungsarbeiten an der Kirche und im Mädchenheim, die missionarische Arbeit des Pastors, z.B. in wöchentlichen Fernsehsendungen und die vielen jungen Familien mit ihren Kindern, die zur Geburt 100€ geschenkt bekommen haben.

Wir haben mehrere Gemeinden besucht, drei in Nowo, dann die beiden in Taganrog, dazu Schachty, Nowoschachtinsk und, für mich neu, Belaja Kalitwa, wo jetzt eine junge deutsch-russische Familie sehr engagiert die Gemeindeleitung übernommen hat. Viele bekannte Gesichter habe ich entdeckt und dankbare Babuschkas getroffen, die herzliche Grüße an ihre Paten ausgerichtet haben. Ich hatte ja auch eine Menge Briefe für sie dabei und nun von ihnen jede Menge Post in Empfang genommen, teils auch mit schokoladigem Gruß versehen. Dabei war ich davon ausgegangen, mit fast leerem Koffer nach Hause fahren zu können.

Thema Politik unvermeidlich?

In den Zeiten politischer Spannungen zwischen Europa und Russland war der Empfang bei der Stadtverwaltung ein sehr wichtiger Programmpunkt. Politische Fragen sind ja eher ein Minenfeld, das ich möglichst meiden wollte. Es ist nämlich schwierig, der Argumentation der russischen Seite etwas entgegenzusetzen, nicht nur, weil mir wahrscheinlich die Vokabeln ausgehen würden. Ich habe allen gesagt, ich käme nicht als Politikerin, sondern um Brücken zu bauen, um die Gesprächskanäle zwischen den einfachen Menschen offen zu halten und die Städtepartnerschaft zu stärken. Aber fast alle Gesprächspartner wollten wissen, was man in Deutschland von Russland denkt.

In den Gesprächen wird deutlich, dass die Russen Angst vor Chaos, Aufstand und ungeordneten Verhältnissen haben. Die Erinnerung an die chaotischen 90er Jahre in der Perestroika ist sehr lebendig. Ein starker Präsident soll alles zusammenhalten und eine „Farbenrevolution“ wie auf dem Maidan in Kiew verhindern. Lieber ein starker Präsident, der das Land vor Aufständen und Unruhe bewahrt als die sog. westlichen Freiheiten, die das Land letztlich schwächen würden. Auf jeden Fall sind die meisten Russen stolz auf ihr Land und möchten als gleichwertige Partner anerkannt werden.

StadtverwUnser Besuch beim City-Manager und dem Vorsitzenden der Duma war für Pastor Romanenko und seine Gemeinde wichtig und ist in angenehmer Atmosphäre verlaufen, mit viel Presse und dem üblichen Geschenkaustausch. Während es wieder fast überall in Russland für nicht-orthodoxe Pastoren schwer ist, in der Öffentlichkeit Anerkennung zu finden, genießt Pastor Romanenko ein hohes Ansehen. Das liegt u.a. an seiner mehr als 25 Jahre währenden sozial-diakonischen Arbeit, ausgehend von den 40 LKWs mit Hilfsgütern aus Iserlohn, die er in der Stadt verteilt hat. Und Romanenko ist sehr gefragt und gut vernetzt. So ist er u.a. Mitglied des Beraterstabs der Stadtverwaltung für innerkonfessionelle, innerkulturelle und innerethnische Fragen. Für seine aktive Mitarbeit hat er letztes Jahr eine Auszeichnung des Bürgermeisters erhalten. Hervorgehoben wurde dabei seine Rolle als Organisator der Jubiläumswoche zum 140. Geburtstag der ersten russischen Bibelübersetzung. Und in dem Diplom wurde erwähnt, dass Pastor Romanenko gute Beziehungen zur deutschen Partnerstadt Iserlohn unterhält. In diesen Zusammenhang muss man dann den offiziellen Empfang einordnen, in dessen Genuss ich am 23. April kam, und über den auf der Internetseite der städtischen Duma ausführlich berichtet wurde.

KirchaErst am letzten Tag meines Aufenthaltes, dem Sonntag, war ich in unserer „Kircha“, der ehemaligen deutschen lutherischen Kirche in Nowo. 2017 feierte sie ihren 120. Geburtstag. Zu Beginn der 90er Jahre, als die Stadt das Gebäude an die Gemeinde zurückgegeben hat, konnten die Reparaturarbeiten nur vorläufig vorgenommen werden. So war in den letzten Monaten eine Generalüberholung notwendig geworden, bei der das komplette Dach und der Turm saniert wurden. Eine riesige Aufgabe für die kleine Gemeinde, die sie finanziell aus eigenen Kräften nicht stemmen konnte. Gott sei Dank gab es einige Unterstützer. Im Gottesdienst gibt es immer viel Musik von unterschiedlichen Ensembles verschiedenen Alters, einfach schön! Auf ein Grußwort hatte ich mich natürlich vorbereitet; und danach dann herzliche Grüße für die Freunde in Iserlohn entgegengenommen.

 

Eindrücke von Stadt und Land:

Bei der Ankunft staunt man nicht schlecht über den neuen Flughafen. Rostow hat sich gerüstet für die Fußballweltmeisterschaft: ein moderner, erheblich größerer Flughafen (mit richtig schicken Toiletten!) wurde vor den Toren der Stadt erbaut. Dorthin führen breite Zubringerstraßen, an denen sich wiederum neue Firmen niedergelassen haben. Und ein neues großes Stadion entstand am südlichen Ufer des Don mit einer gigantischen Brücke als Verbindung zur Stadt. Die ganze Uferpromenade des Don ist aufgehübscht und überall findet man Hinweise: Gesponsert von der Gazprombank.

Es ist sehr viel mehr Militär in der Stadt zu sehen, und es gibt einige neue Kasernen im Umland, sicher im Zusammenhang mit der Ostukraine. Die Grenze ist ja stellenweise weniger als 100km entfernt.

Man sieht viele kleine Lebensmittelläden und neue Supermärkte mit modernen Kassen zum Bezahlen per Handy. Das Angebot in den Geschäften ist recht groß, überall sieht man Artikel aus Westeuropa, die irgendwie den Boykott umgangen haben oder über andere Länder importiert wurden. Manche Dinge sollte man lieber nicht kaufen, sagen Romanenkos, wie z.B. Käse, denn der ist 100% Ersatzkäse. Besonders das Einkaufen in Apotheken ist problematisch, auch in den offiziellen. Zu 70% seien die Medikamente gefälscht und damit wertlos, das neue Russisch-Roulette. Die soziale Schere geht in Russland viel weiter auseinander als in Westeuropa, in der Provinz ist es aber nicht so krass wie in Moskau oder St. Petersburg, wo 1% der Bevölkerung 75% des Vermögens besitzen sollen.

StraßenStraßen sind teils neu asphaltiert, teils haben sie noch die alten tiefen und schlecht abgesicherten Schlaglöcher. Innerorts haben die Ampeln eine Anzeige, wie lange die Rot- bzw. Grünphase noch dauert, das gefiel mir gut. Es gibt zahllose neue Servicestellen für Autofahrer: Waschanlagen, Reifenmontage und Tankstellen; in den letzten Jahren ist die Zahl der uralten klapprigen Vehikel zurückgegangen und es sind mehr und mehr westliche und japanische Autos zu sehen, teilweise SUVs, die von der wachsenden Mittelschicht gefahren werden. Diese gehört auch zur Kundschaft der vielen kleinen Restaurants, Nagelstudios und Beautyshops, d.h., der Dienstleistungssektor ist recht groß.

Autofahren auf Russlands Straßen ist ein Abenteuer für sich. Meine „Chauffeure“ waren alle exzellente Fahrer, aber trotzdem wrüde mir manchmal angst und bange, und wir waren sehr viel unterwegs. Überholen an unübersichtlichen Stellen (zumindest meiner Meinung nach) gehört zum Volkssport, schnelles, schnittiges Fahren ebenso. Viele Fahrer haben ihren Wagen aus Japan importiert, d.h. mit dem Steuer auf der rechten Seite. Für mich als Beifahrerin ist es immer noch sehr gewöhnungsbedürftig, auf der „falschen Seite“ zu sitzen und den Gegenverkehr direkt im Blick zu haben, ohne bremsen oder lenken zu können. Natürlich ist auch in Russland der Verkehr reglementiert, es gibt viele Verkehrskontrollen, eine Strafe bei zu schnellem Fahren droht aber erst, wenn ich mich recht erinnere, ab 20km Überschreitung des Limits. An allen neuralgischen Stellen gibt es Radarüberwachung, aber die meisten Autofahrer haben einen Radarmelder im Auto, der piept, sobald man sich einer Radarfalle nähert. Dann geht es runter mit dem Tempo und anschließend wieder rauf. Abgesehen von der unterschiedlichen Auffassung zum Fahrtempo war ich auch meist die einzige, die angeschnallt im Auto mitfuhr. Viele Fahrer haben eine Kamera im Wagen installiert, die das Geschehen registriert, und sie können die Aufzeichnung auch vor Gericht einsetzen als Beweis für ihre Unschuld. Dies ist besonders dann wichtig, wenn ein Behördenfahrzeug den Unfall verursacht hat, da man sonst keine Chance hat, Recht zu bekommen.

Umweltschutz ist noch ziemlich klein geschrieben. In Nowo ist das Elektrodenwerk noch immer die größte Dreckschleuder weit und breit und sieht äußerlich ziemlich heruntergekommen aus. Sonst gibt es neben dem NEWS, dem großen Elektrolok-Kombinat, nicht viele große Arbeitgeber.

Russland hat ein gewaltiges Müllproblem, es gibt keine Müllverbrennung, alles landet auf der Deponie. In der Stadt gibt es an jeder Ecke Müllcontainer, in die die Leute alles werfen, vom Restmüll über Kunststoff und anderes Recyclebares bis zum Sperrgut. Nachts werden die Container geleert, das macht ziemlichen Lärm; zuerst dachte ich, es würde geschossen, so laut krachte es. In den Vororten hängen die Familien ihren Müll an die Bäume oder die Zäune und dann kommt ein LKW und sammelt sie ein.

Da man das Leitungswasser nicht trinken kann, kaufen viele Wasser in großen Kanistern, was das Müllproblem vergrößert, oder sie haben in der Küche einen Filter eingebaut. Sonst muss man das Wasser abkochen. In den Vororten holen die Bewohner Wasser aus ihren Brunnen, das auch keine Trinkwasserqualität hat.

Fazit

Für die meisten Menschen in unseren Partnerstädten ist das Leben nicht einfach. Es gibt wie überall in Russland so viele Alltagsprobleme, die hier bei uns weitgehend längst überwunden sind. Dazu kommt die enorme Korruption, Polizeigewalt und Rechtsunsicherheit, der einfache Menschen letztlich ausgeliefert sind. Andere wissen sich eher zu wehren bzw. geben nicht so schnell klein bei. Man muss einen langen Atem haben, wenn man von Behörden etwas braucht und kein Bakschisch zahlen will.

Die sprichwörtliche Geduld der Russen ist immer wieder erlebbar. Aber auch ihr großes Gottvertrauen und der Friede in den Herzen der Christen, die ich treffen durfte. ZDF-Reporter Matthias Fornoff hat mal gesagt: „Russland ist mir nahe, Putins Russland ist mir unheimlich“. Das kann ich so ähnlich auch sagen. Manches in der politischen Entwicklung des Landes lässt sich nur schwer akzeptieren, aber die Begegnung mit so vielen liebenswerten Menschen wiegt doch manches auf.

Nun lag in meinem Bericht das Augenmerk weniger auf der Beschreibung unserer Projekte, die sich ja prinzipiell jedes Jahr wiederholen, sondern mehr auf einzelnen Aspekten. Mir war es wichtig, einige persönliche Eindrücke meiner Reise wiederzugeben, von denen ich hoffe, dass sie Ihr Interesse gefunden haben.

Mit einem Koffer voll Post und einem Herzen voll Dank bin ich am 30. April nach Hause zurückgekehrt. Wie im Flug ist meine Besuchswoche in unserer Partnerstadt Nowotscherkassk vergangen. Wohlbehalten wieder zuhause angekommen hatte ich meinen Schreibtisch voller Briefe, kleiner Geschenke und Fotos für die deutschen Paten. Einige Begegnungen werden mir lange in Erinnerung bleiben, nicht zuletzt die mit "unseren" Babuschkas. Das ist gerade das Schöne an der Arbeit unseres Hilfswerks, dass die Spenden direkt bei den Bedürftigen ankommen und der Spender weiß, wer seine Gabe erhält. Hin und wieder gibt es dann auch ein aktuelles Foto.

Jutta Stricker, Vorsitzende

 

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